Ein „lehrreicher" Bonbon

Während ich den Rucksack packte, stand Guillermo, ein Junge von ungefähr zehn Jahren, neben mir. Unter den Sachen, die ich einpackte, fiel mir ein Bonbon in die Hände, den ich Guillermo gab, ohne mir irgend etwas dabei zu denken. Als ich mit dem Packen fertig war, ging ich, um zum letzten Mal im Dorf zu unterrichten.

Am nächsten Morgen unterhielt ich mich noch mit einigen Leuten, ehe ich mich endgültig verabschiedete. Da gesellte sich Guillermo zu uns und fragte auf einmal, ob ich nicht die Kinder noch ein wenig unterrichten könnte. Da ich es nicht eilig hatte, sagte ich zu. Schnell rief er ein paar Kinder zusammen, damit wir anfangen konnten.

Als wir alle in einem Kreis im Freien versammelt waren, und ehe ich noch meinen Mund auftun konnte, geschah es. Jetzt war es Guillermo, der in Aktion trat, um den Unterricht zu gestalten, - ich könnte sagen, vor allem mich zu unterrichten – so daß wir alle gleichzeitig Lehrer und Schüler wurden nach dem guten Vorbild Paulo Freires, den Guillermo gewiß nicht kannte.

Guillermo stand inmitten von uns und zog die Aufmerksamkeit aller auf sich. Mit gewichtiger Geste holte er aus seiner Tasche den Bonbon hervor, den ich ihm am Tage zuvor gegeben, und den ich längst vergessen hatte. Hoch erhob er den Arm mit dem Bonbon in der Hand, damit wir ihn alle sehen konnten und sagte mit laut vernehmlicher Stimme: „Diesen Bonbon hat mir gestern Bruder Carlos geschenkt." Dann steckte er ihn vor allen in den Mund, um ihn mit den Zähnen in zwei Hälften zu zerteilen. Die eine Hälfte gab er einem anderen Kind. Nun teilten die beiden die Hälften, um sie weiter verteilen zu können. Das setzte sich so fort, bis alle anwesenden Kinder ein Stückchen vom „lehrreichen" Bonbon hatten.

Für Guillermo wäre es ein Leichtes gewesen, den Bonbon alleine zu verzehren. Es war ein Geschenk für ihn. Ich hatte mir keineswegs klar gemacht, daß dieser Bonbon für ihn eine Kostbarkeit darstellte. Im Dorf gab es weder Bonbons noch irgend etwas anderes zu kaufen. Und selbst wenn es sie gegeben hätte, hätte Guillermo kein Geld gehabt, um sich Süßigkeiten zu besorgen. Hinzu kommt noch, daß niemand zugegen war, als ich ihm den Bonbon gegeben hatte. Es war ein Geschenk für ihn. Er selbst jedoch entschied sich für das Teilen und nicht für den persönlichen, individuellen Genuß. So musste er einen ganzen Tag lang diesen Schatz mit sich herumtragen.

Diese Art zu handeln hatte er nicht von Lehrern, Priestern oder anderen Ausbildern gelernt, die übrigens noch niemals bis zu jenem entfernten Dorf vorgedrungen waren. Abgesehen davon, daß solche „Pädagogen" auch andere Dinge unterrichten würden. Guillermos Beispiel läßt uns vielmehr das Resultat der gelebten Erziehung sehen, wie sie in den Gemeinden stattfindet und anhand der Methoden, wie sie hinsichtlich der Verantwortlichkeiten der Erstgeborenen aufgezeigt wurden. Da werden den Kindern Aufgaben zuteil, die sie in diesem zarten Alter voll in Anspruch nehmen, und durch die sie praktisch lernen Gemeinschaft zu leben, im TEILNEHMEN LASSEN der anderen. So ereignet es sich unter den Tojolabales, daß in ihrer Gemeinschaft gleichzeitig alle Lehrende und Lernende sind. Auf diese Weise verwirklicht sich in ihrer Kultur die Intersubjektivität. [S. 155 f.]

„Nicht für die Schule lernen wir, sondern für das Leben"

Wir befinden uns in einem anderen Dorf, das nicht weniger abgelegen ist als das vorige. Den Anlaß bildet ein Ausbildungskursus für fünfundzwanzig von ihren Dörfern gewählte junge Tojolabales, viele davon bereits verheiratet, die aus einem weiten Umkreis kommen. Der Kursus dauert zehn Wochen und soll die Teilnehmer darauf vorbereiten, als Lehrer außerhalb vorhandener oder nichtvorhandener Schulen in ihren jeweiligen Dörfern zu unterrichten. Es handelt sich um ein Versuchsprojekt mit einem Lehrplan, der vorher mit den Bewohnern der verschiedenen Dörfer besprochen worden war und ihren Bedürfnissen entsprach. Der Plan war, daß die auszubildenden Lehrer später als unbezahlte Freiwillige in ihren Dörfern unterrichten werden, wenn es ihnen ihre Feldarbeit erlaubt.

Manche Teilnehmer können bereits auf Spanisch lesen und schreiben, da sie es in den Schulen in ihren Dörfern gelernt haben. Andere kennen nicht einen einzigen Buchstaben noch eine einzige Zahl. Sie hatten nie die Gelegenheit, eine Schule zu besuchen. Der Kursus ist für die letzteren die erste Erfahrung, nicht nur lesen und schreiben zu lernen, sondern überhaupt Unterricht zu haben. Für alle jedoch ist es das erstmalige Erlebnis, ihrer eigenen Sprache reflektieren zu begegnen, ihre eigenen Sprache sogar zu erlernen. Denn der Kursus findet natürlich auf Tojolabal statt. Alle lernen lesen und schreiben in ihrer Muttersprache, die in keiner Schule unterrichtet wird, noch ein Lehrfach ist. Und so entfalten die Studenten eine ungewohnte Kreativität. Sie stellen den Stundenplan auf, sie machen Gedichte und Lieder, spielen selbsterdachtes Theater, werden zu erfahrenen Kopfrechnern, sie schrauben die Zeiten für Pausen und Ausruhen zurück. Der Unterricht findet statt von Montag bis einschließlich Samstag, täglich von 6:00 früh bis 9:00 abends. Lernen in ihrer eigenen Kultur wird ein einmaliges Erlebnis.

Eines Tages sagen sie zu mir: „Bruder Carlos, gib uns doch mal ein Examen!" Zumindest einige von ihnen wissen, daß in den Schulen Examen abgehalten werden. Im Kursus hat es dergleichen niemals gegeben. Der Unterricht besteht darin, daß wir miteinander reden, dann auch wieder schreiben und uns Notizen machen. Wir kennen alle unseren Wissensstand und wissen, daß es viele Dinge gibt, die wir noch lernen müssen. Denn alle Teilnehmer wollen doch dem Auftrag ihrer Dorfgemeinden nachkommen. Wenn sie vom Kursus zurückkehren, sollen und wollen sie schließlich auf ihren Dörfern den Menschen dort das lehren, was sie in dem Kursus gelernt haben.

Ich frage nicht, warum sie das Examen haben wollen. Ich stelle ihnen einfach eine Aufgabe, die sie lösen sollen. Unmittelbar nachdem sie sie gehört haben, rücken allen fünfundzwanzig Studenten dicht zusammen, um die Sache in Gruppenarbeit zu lösen. Sie reden angeregt miteinander, finden rasch die Lösung und teilen sie mir mit.

Anschließend besprechen wir nicht nur die Aufgabe und ihre Lösung, sondern vor allem das Examen, wie sie an es herangegangen sind und wie sie es gelöst haben, und zwar im Gegensatz zu den Examen, die in den Schulen abgehalten werden. Dort, erkläre ich ihnen, kommt es bei den Examen vornehmlich auf etwas anderes als die Lösung einer Aufgabe an. Das wird sofort daraus ersichtlich, daß kein Schüler sich dem anderen nähern oder gar mit ihm reden darf. Denn es soll herausgefunden werden, was jeder einzelne kann, und nicht, ob die Lösung eines Problems gefunden wird, das für alle von Bedeutung ist und gelöst werden muß. Das Problem und seine Lösung als solche sind nicht von Interesse. Was zählt und von Gewicht ist, ist etwas ganz anderes. Es geht nur darum, daß ein jeder Schüler zeigt, was er kann und weiß oder nicht weiß. Wegen dieser eigenartigen Auffassung der Examen wird also jeder von allen anderen abgesondert. Wer sich trotzdem einem anderen nähert und gar mit ihm spricht, begeht das schlimmste Verbrechen beim Examen, er wird disqualifiziert, und sein Examen wird für ungültig erklärt. Keiner darf sehen und wissen, was sein Nachbar schreibt.

Fragen kommen auf. Warum wird das so gemacht? Wir erklären diese Prüfungsformalitäten, die eben nicht darauf abzielen, die Lösung des Problems, sondern diejenigen Schüler zu finden, die richtig zu antworten wissen. Es ist ebenfalls nicht von Interesse, was die Gruppe oder Klasse als Gruppe weiß. So entsteht durch die Prüfung ein Leistungswettkampf oder Konkurrenzkampf unter den Schülern. wer die bessere Antwort gibt, erhält die bessere Zensur. Die Zensuren am Ende des Schuljahres setzen sich größtenteils zusammen aus denen der Examens-arbeiten, die während des Schuljahres geschrieben wurden. Der Schüler mit den besten Zensuren ist der potentielle Kandidat für ein Stipendium oder eine Auszeichnung. Jedenfalls gilt er als der beste Schüler seiner Generation oder Klasse. So sehen wir, daß der Konkurrenzkampf ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal der Erziehung ist, so wie sie in den Schulen stattfindet. Derselbe Konkurrenzkampf erzeugt Druck. Die Schüler haben kein Interesse daran, miteinander Dinge zu unternehmen, gemeinsam Probleme zu lösen, sondern ein jeder sieht im anderen einen feindlichen „Konkurrenten". So führt besagtes Unterscheidungsmerkmal der Erziehung nicht nur dazu, die sogenannten Besten herauszufinden, sondern auch dazu, die Bildung von Gemeinschaft zu untergraben.

Bei der Erklärung dieses Themas treten eine Fülle weiterer Fragen auf. Die Studenten unterbrechen mich, um Einzelheiten zu klären, die ihnen wichtig erscheinen. Dabei wird eine Sache offenkundig. Die Art wie in den Schulen geprüft wird, ist ein Thema, das einen regen Gedankenaustausch auslöst.

Die Tojolabales sind in keiner Weise überzeugt von der Methode der Examensprüfung, wobei einer gegen den anderen im Konkurrenzkampf seine Wettbewerbsfähigkeit unter Beweis stellen muß. Sie reden dabei über eine jener grundlegenden Sitten, die in ihren Dörfern ein übliches und erprobtes Verhalten bezeugt. Wenn ein Problem auftritt, kommen die Leute des Dorfes zusammen, und alle erwägen und überlegen es gemeinsam. Der Grund der Zusammenkunft ist offensichtlich, und die Gruppe der fünfundzwanzig Studenten dient als Beispiel, um eine Dorfgemeinde darzustellen. Einhellig drücken die Studenten diesen Gedanken aus: fünfundzwanzig Köpfe denken besser als einer. Ebenfalls sehen fünfzig Augen besser als zwei. Daher überzeugt es sie ganz und gar nicht, die Gruppe aufzuteilen, damit sich alle gegeneinander im Konkurrenzkampf befinden. Die Probleme des realen Lebens fordern die beste Lösung, und dafür ist es besser auf die Gemeinschaft zurückgreifen [sic!], als auf die isolierte Einzelperson. [157 ff.]

Aus: Lenkersdorf, Carlos „Leben ohne Objekte – Sprache und Weltbild der Tojolabales, ein Mayavolk in Chiapas", Frankfurt am Main: IKO, Verl. für Interkulturelle Kommunikation, 2000.

Danke Uli für Deine Zuarbeit, ein sehr lehrreiches Buch!